Die beiden Wasserkrüge
Es war einmal ein Wasserträger in Indien.
Auf seinen Schultern ruhte ein schwerer Holzstab, an dem rechts und links je ein großer Wasserkrug befestigt waren.
Der eine Krug war perfekt, der andere hatte einen Sprung.
So kam es, dass der Wasserträger am Ende des Weges seinem Herrn nur noch eineinhalb Krüge Wasser anbieten konnte.
Der perfekte Krug war natürlich sehr stolz auf sich, der kaputte Krug schämte sich sehr.
Nach zwei Jahren Scham hielt es der kaputte Krug nicht mehr aus und sprach zu seinem Träger: „Ich schäme mich für mich selbst und ich möchte mich gerne bei dir für meine Unzulänglichkeit entschuldigen.“
Der Wasserträger schaute den Krug an und fragte: „Wofür schämst du dich?“
„Ich schäme mich dafür, dass du - obwohl du die volle Anstrengung hast - durch mich nie den vollen Lohn bekommst.“
Der Wasserträger bat den Krug, auf dem Nachhauseweg einmal auf den Wegrand zu achten.
Am Ende des Weges fühlte sich der Krug wieder elend und schuldig.
Da sprach der Wasserträger: „Hast du die Blumen am Wegesrand gesehen?
Hast du gesehen, dass sie nur auf deiner Seite wachsen und nicht auf der Seite des ganzen Kruges? Ich wusste von Anfang an von deinem Sprung und so habe ich Blumensamen entlang des Weges gestreut und du hast sie Tag für Tag gewässert. So konnte ich jeden Tag eine der herrlichen Blüten pflücken und den Tisch des Herrn dekorieren. All diese Schönheit hast du geschaffen.“
Die Münze
Man bot einem berühmten Weisen eine Summe Geld als großzügiges Geschenk an.
Der alte Weise aber sagte dankend: „Ich brauche euer Geld nicht. Ich habe doch selbst schon eine Münze.“
Die anderen schauten überrascht und betroffen. Einer von ihnen sagte dann. „Aber Herr, die Münze ist doch nicht viel wert – wie lange soll sie vorhalten?“
Der Alte erwiderte. „Wenn du mir garantieren kannst, dass ich länger lebe, als meine Münze vorhält, so will ich dein Geschenk annehmen.“
Der wertvolle Samen
Ein Farmer, dessen Mais auf staatlichen Landwirtschaftsmessen immer den ersten Preis gewann, hatte die Angewohnheit, seine besten Samen mit allen Farmern in der Nachbarschaft zu teilen.
Man fragte ihn, warum er das täte, und er antwortete: „Es liegt in meinem ureigensten Interesse, ich lebe ja nicht allein für mich. Der Wind trägt die Pollen von einem Feld zum anderen. Wenn also meine Nachbarn minderwertigen Mais züchten, vermindert die Kreuzbestäubung auch die Qualität meines Kornes. Darum liegt mir daran, dass auch sie nur den allerbesten Mais anpflanzen.“
Die Leiche
Ein Mann bildete sich ein tot zu sein. Da er sich nunmehr für eine Leiche hält, isst er nichts, arbeitet nicht, bewegt sich nicht und sitzt da und beklagt sich darüber tot zu sein.
Alle Versuche seiner Freunde ihn zu überzeugen, dass sein Körper noch am Leben sei, alle Argumente der Ärzte fruchten nicht. Schließlich findet sich ein Arzt, der seine Hilfe anbietet. Behutsam geht er auf den Mann ein und fragt ihn schließlich gerade heraus: „Können Leichen bluten?“
Dieser denkt eine Weile nach und antwortet dann: „Nein. Denn alle Körperfunktionen sind eingestellt und daher gibt es bei einer Leiche keine Blutung mehr!“ „Gut denn“, sagt der Arzt, „Lass es uns ausprobieren!“ Er nimmt eine Nadel und sticht den Mann damit in den Finger. Sofort quillt Blut aus der Wunde.
Verwundert schaut der Mann auf seinen blutenden Finger und sagt: „Verdammt noch mal, Leichen bluten doch!“
Die zwei Wölfe
Ein alter Indianer saß mit seinem Enkelsohn am Lagerfeuer. Es war schon dunkel geworden und das Holz knackte, während die Flammen in den Himmel züngelten.
Der Alte sagte nach einer Weile des Schweigens: „ Weißt du, wie ich mich manchmal fühle? Es ist, als ob da zwei Wölfe in meinem Herzen miteinander kämpfen würden. Einer der beiden ist rachsüchtig, aggressiv und grausam. Der andere hingegen ist liebevoll, sanft und mitfühlend.“
„Welcher der beiden wird den Kampf um dein Herz gewinnen?“, fragte der Junge.
„Der Wolf, den ich füttere“, antwortete der Alte.
Über die Armut
Eines Tages nahm ein Mann seinen Sohn mit aufs Land, um ihm zu zeigen, wie arme Leute leben. Vater und Sohn verbrachten einen Tag und eine Nacht auf der Farm einer sehr armen Familie.
Als sie wieder zurückkehrten, fragte der Vater seinen Sohn: „Wie war der Ausflug?“
„Sehr interessant!“, sagte der Sohn.
„Und hast du gesehen, wie arm Menschen sein können?“ „Oh ja Vater, das habe ich gesehen.“
„Was hast du also gelernt?“, fragte der Vater. Der Sohn antwortete: „Ich habe gesehen, dass wir einen Hund haben und die Leute auf der Farm haben vier. Wir haben einen Swimmingpool, der bis zur Mitte unseres Gartens reicht und sie haben einen See, der gar nicht mehr aufhört. Wir haben prächtige Lampen in unserem Garten und sie haben die Sterne. Unsere Terrasse reicht bis zum Vorgarten und sie haben den ganzen Horizont.“
Der Vater war sprachlos. Der Sohn fügte noch hinzu. „Danke, Vater, dass du mir gezeigt hast, wie arm wir sind.“
Die zwei Samenkörner
Es steckten einmal zwei Samen nebeneinander im Boden.
Der erste Samen sprach: „Ich will wachsen! Ich will meine Wurzeln tief in die Erde senden und will als kleines Pflänzchen die Erdkruste durchbrechen, um dann kräftig zu wachsen. Ich will meine Blätter entfalten und mit ihnen die Ankunft des Frühlings feiern. Ich will die Sonne spüren, mich vom Wind hin- und herwehen lassen und den Morgentau auf mir spüren. Ich will wachsen!“
Und so wuchs der Samen zu einer kräftigen Pflanze.
Der zweite Samen sprach. „Ich fürchte mich. Wenn ich meine Wurzeln in den Boden senden, weiß ich nicht, was mich dort in der Tiefe erwartet. Ich befürchte, dass es mir wehtut oder dass mein Stamm schaden nehmen könnte, wenn ich versuche, die Erdkruste zu durchbrechen. Ich weiß auch nicht, was dort oben über der Erde auf mich lauert. Es kann so viel geschehen, wenn ich wachse. Nein. Ich bleibe hier in Sicherheit und warte, bis es sicherer ist.“
Uns so verblieb der Samen in der Erde und wartete.
Eines Morgens kam eine Henne vorbei. Sie scharrte mit ihren scharfen Krallen nach etwas Essbarem im Boden. Nach einer Weile fand sie den wartenden Samen und fraß ihn auf.
Die Schnur
Es war einmal ein indischer König namens Akbar.
Eines Tages spannte er eine Schnur und forderte seine Minister auf: „Schneidet diese Schnur nicht ab, verknotet sie nicht, doch verkürzt sie auf eine andere Art und Weise!“
Da wunderten sich alle, wie die Schnur verkürzt werden könnte, ohne abgeschnitten oder verknoten zu werden.
Schließlich stand einer der weisen Leute auf und spannte eine längere Schnur daneben. Durch diese zweite, längere Schnur wurde die erste automatisch verkürzt. Sie war nicht verknotet, nicht abgeschnitten und dennoch verkürzt worden.
Glücklich darüber, dass seine Minister die Lösung gefunden hatten, sprach König Akbar: „Ähnlich sollen wir die Meinung eines anderen weder umbiegen noch beschneiden, sondern nur unsere eigene Schnur daneben spannen. Dann mögen die anderen entscheiden, was länger und was kürzer, was besser oder was schlechter ist. Wir sollen nicht für die anderen entscheiden, wir sollen ihnen nur unsere eigene Wahrheit darlegen."
Zwei Frösche
Zwei Frösche waren ganz vorsichtig vom Garten in die Speisekammer gehüpft. Dort fielen sie beide in einen hohen Rahmtopf.
Es war jedoch gerade soviel Rahm im Topf, dass sie schwimmen konnten. Nachdem sie so eine Weile herumgeplanscht waren und sich abgemüht hatten, waren sie erschöpft. Da sagte der eine: „ Es hat doch keinen Zweck, die Wand ist zu hoch, als dass wir entkommen könnten.“ Er gab auf – und ertrank.
Der andere Frosch dachte bei sich. „Das kann doch nicht das Ende sein, da muss es doch einen Ausweg geben!“ Er plantschte und plantschte so lange im Rahm, bis er schließlich auf einem Klumpen Butter saß. Mit einem Satz sprang er hinaus ins Freie.
Freie Erzählung
Der Diamant
Ein weiser Mann hatte den Rand seines Dorfes erreicht und ließ sich unter einem Baum nieder, um dort die Nacht zu verbringen, als ein Dorfbewohner angerannt kam und sagte: „Der Stein! Gib mir den Stein! Gib mir den kostbaren Stein!“
„Welchen Stein?“, fragte der weise Mann.
„Letzte Nacht erschien mir ein Engel im Traum“, erzählte der Dörfler. „Er sagte mit, ich würde bei Einbruch der Dunkelheit am Dorfrand einen weisen Mann finden, der mir einen kostbaren Stein geben würde, sodass ich für immer reich wäre.“
Der Weise durchwühlte seinen Sack und zog einen Stein heraus. „Wahrscheinlich meinte er diesen hier“, sagte er, als er dem Dörfler den Stein überreichte. „Ich fand ihn vor einigen Tagen auf einem Waldweg. Du kannst ich natürlich haben.“
Staunend betrachtete der Mann den Stein. Es war ein Diamant. Ein riesengroßer Edelstein von unermesslichem Wert. Er nahm den Diamanten und ging weg. Die ganze Nacht wälzte er sich im Bett und konnte nicht schlafen. Am nächsten Tag noch vor Tagesanbruch eilte er zum Weisen, weckte ihn auf und flehte ihn an: „Gib mir von dem Reichtum, der es dir ermöglicht, diesen Diamanten so leichten Herzens wegzugeben.“
Quelle unbekannt